Signalisieren, wo man steht
Bei einer Wiener Podiumsdiskussion wurde über „Cancel Culture“ diskutiert

VON GUDRUN TRAUSMUTH, abgedruckt in der Tagespost vom 14.10.2021

Die österreichische Landtagsabgeordnete Caroline Hungerländer und Jan Ledóchowski, Sprecher für Christdemokratie im Wiener Rathausklub, hatten ins Kellertheater unter dem renommierten Wiener Cafe´ Prückel geladen – passend zum Thema, denn landläufig könnte man sagen, „Cancel Culture“ lässt bestimmte Positionen, Meinungen und Themen einfach absinken ins Unterirdische, ins Dunkel des Nicht-Relevanten oder Nicht-Gestatteten.

Was Cancel Culture denn von Zensur unterscheide, wollte die toughe Moderatorin Anna Dobler („exxpress“-Medienhaus) zu Beginn vom Philosophen Konrad Paul Liessmann („Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung“) wissen. Der setzte der traditionellen „Zensur von oben“ die „Zensur von unten, durch Aktivisten, soziale Medien…“ entgegen und brachte das Beispiel der Verhinderung einer Buchpräsentation des früheren deutschen Bundesministers für Inneres beim Göttinger Literaturfestival 2019: Thomas de Maizière sei an der Vorstellung seines Titels „Regieren“ gehindert worden, weil ihm die Verantwortung für den Flüchtlingsdeal mit der Türkei vorgeworfen worden sei.

Betroffen hätte ihn, so Liessmann, der Beifall für die Verhinderung des de Maizière-Auftritts in der „Frankfurter Rundschau“ gemacht, wo der Protest linker Aktivisten als völlig richtig und Akt zivilen Widerstands dargestellt worden sei. Liessmann attackierte die darin zum Ausdruck kommende Haltung „Am besten, der wäre gar nicht da“–man wolle sich nicht mit Positionen, die man nicht teile, auseinandersetzen, das sei das Grundproblem der Cancel Culture.

Die Germanistin Daniela Strigl stimmte Liessmann mit Blick auf die Sprache zu: die Wortwahl selbst zeige heute signalhaft schon, wie man zu etwas stehe. Obwohl manche thematischen Einwände, die von Proponenten der Cancel Culture vorgebracht würden, berechtigt seien, gäbe es auch viel Selbstgerechtigkeit: „Es geht darum, jemanden zum Schweigen zu bringen“, und „auf der moralisch richtigen Seite zu stehen“, andere Positionen wolle man „nicht hören müssen“. Möglicherweise, so Strigl, sei bei solchen Reflexen sogar auch eine Art nazistischer Kränkung bei dem, „der wisse, was richtig sei“ im Spiel.

Der Autor Matthias Politycki („Weiberroman“, „In 180 Tagen um die Welt“), so zitierte Anna Dobler, „sei vor dem Wokenesswahn und der Genderkorrektheit seiner deutschen Heimat nach Wien geflohen“ und „Die Pervertierung linken Denkens habe ihn zunehmend fassungslos gemacht“. Politycki nannte als Bespiel, dass in den deutschen Medien ständig von „Migrantinnen“ die Rede gewesen sei, „die auf Lampedusa gestrandet waren“, was er als „kurz vor Fake News“ ansiedelte, da man ja wisse, dass 90 Prozent junge Männer und eben kaum Frauen kämen. Wir seien in der Umsetzung von Themen an jenem Punkt „wo Aufklärung in Gegenaufklärung kippt“. Als Schriftsteller, so Politycki, finde er die ganzen „frames“ die gesetzt würden – etwa die implizite Verpflichtung, ständig das Wort „Zivilgesellschaft“ – zu verwenden, „extrem peinigend“, denn wer die Sprache beherrsche, beherrsche den Diskurs, und umgekehrt: „Wer die Sprache mir nimmt und seien es auch nur einzelne Worte, der nimmt mir die literarische Freiheit.“ Aber richtig gefährlich werde es „hinter den Kulissen“, wenn Marketingbudgets für Bücher gestrichen würden, weil sie nicht korrekt im Sinne der Cancel Culture seien. Solche Strukturen, unterstrich Matthias Poltiycki, erklärten auch die „grassierende Selbstzensur“.

Die Journalistin und Buchautorin Anna Goldenberg („Versteckte Jahre“) provozierte mit der Ansicht, Cancel Culture sei nicht zwingend schlecht, weil es ihr gelinge, Aufmerksamkeit auf tatsächliche Probleme zu lenken. Für sie drückten sich darin die „Wachstumsschmerzen einer immer diverser werdenden Gesellschaft aus, in der immer mehr Leute mitreden können und ihre Meinung sagen können“. Die Aufregung des Widerspruchs gegenüber einem Thomas de Maizière teile sie nicht, denn bei Cancel Culture gehe es auch darum, herrschende Strukturen zu hinterfragen; den Protestierenden sei es um ein Aufzeigen gegangen, dass de Maizières Ansichten schädlich seien. Man müsse hinterfragen „welche Leute auf der Bühne sitzen und warum“.

Liessmann betonte daraufhin, dass wir die für heute vorausgesetzte „Vielstimmigkeit“ sehr überschätzten, und kritisierte die Selektion der Vielstimmigkeit durch Cancel Culture: Wenn man viele Stimmen wolle, „warum müssen dann andere zum Verstummen gebracht werden? Warum können sich die nicht in den Chor der Vielstimmigkeit einfügen?“ An Anna Goldenberg gewandt, stellte Liesmann klar: Den Protestierenden gegen de Maizière sei es ja nicht um Widerspruch gegangen, „sondern sie haben ihn gar nicht reden lassen!“. Im öffentlich rechtlichen Bereich, an den Universitäten oder in entsprechenden Medien etwa, sollte die Vielfalt der Gesellschaft zur Austragung gebracht werden, doch es herrsche hier ein Meinungsklima, wo man bestimmte Formulierungen, Rituale, Gesten vollziehen müsse, um überhaupt noch dazuzugehören. Politycki bedauerte das in dieser Atmosphäre notwendigerweise erfolgendes Verstummen aller „Selbstdenker“: Er sehe eine generelle Verplattung unseres ganzen Diskurses, der nur noch in Vorurteilen münde: „wenn man das kombiniert mit Flugscham und was sonst noch zu beachten ist, dann fürchte ich das Schlimmste, weil wir keine Ahnung über den Mitmenschen haben, der gerade da anfängt, wo er anders denkt und auch anders drauf ist“.

Auf die Frage nach konkreten Themen, die im öffentlichen Diskurs zunehmend unerwünscht seien, meldete sich Daniela Strigel mit einem Erfahrungsbericht zu Wort: Vertreter der Studentenvertretung „ÖH“ hätten zuerst eine Ausladung Alice Schwarzers gefordert, weil sie bestimmte Mentalitäten muslimischer Einwanderer kritisiert habe, dann versucht, sie durch Niederschreien am Sprechen an der Universität für Angewandte Kunst in Wien zu hindern. Liessmann betonte, ihn erschüttere die „fehlende Neugier“ der Protestierenden: es sei nicht relevant für sie „ob Alice Schwarzer irgendein Argument hat, das vielleicht überlegenswert wäre, sie wollen das gar nicht wissen“. Wenn aber die Neugier auf akademischen Boden verspielt habe, dann habe die Idee von Wissen und Wissensgesellschaft schlechthin verspielt. Anna Goldenberg verwahrte sich gegen den Vorwurf mangelnder Neugierde und meinte, die jungen Leute hätten sich vielleicht zu Hause „20 youtube-Videos über Alice Schwarzer“ angeschaut, sich so über deren Ansichten informiert und entschieden, nicht mit Schwarzer zu diskutieren. Dann sollten sie „zu Hause bleiben“, konterte Liessmann nun scharf, „Aber warum dürfen dann andere nicht mit Alice Schwarzer diskutieren?!“

Längere Zeit drehte sich die Debatte um das „Gendern“, als spezielle Form einer Cancel Culture, die – mit diversen Druckmitteln wie schlechterer Benotung akademischer Arbeiten, in denen nicht gegendert wird – „geschlechtersensible“ Sprache durchsetzen möchte. Matthias Politycki wunderte sich über den Zwang zum Gendern, obwohl es vom „Rat für deutsche Rechtschreibung“ nach wie vor wie vor keine Empfehlung in diese Richtung gebe. Daniela Strigl führte die Gefahren eines ahistorischen und sachlich falschen Genderns aus und erzählte, dass ihr etwa in einer studentischen Arbeit in Bezug auf die deutsche Wehrmacht schon „Deserteurinnen und Deserteuren“ begegnet seien … Liessmann schließlich sprach von einem „Umerziehungsprozess“, wenn entgegen amtlicher Empfehlung von öffentlich rechtlichen Medien und der Universität das Gendern dermaßen forciert werde. In einem fulminanten Exkurs legte er die Funktion und den Wert des „generischen Maskulinums“ dar und betonte, beim unreflektierten Gendern gehe es seiner Auffassung nach gar nicht um geschlechtergerechte Sprache, sondern nur darum, zu demonstrieren, „ich stehe auf der richtigen Seite“.