Warum Christen keine Angst haben müssen, sich an jenen gesellschaftlichen Debatten zu beteiligen, in denen die Erosion des christlich-jüdischen Wertefundaments am offensichtlichsten ist

Von Jan Ledóchowski

Es ist schon seltsam, dass der christliche Bürger oft so zaghaft an der Gestaltung unseres Gemeinwesens partizipiert. Man könnte meinen, dass die gesellschaftsrevolutionäre Kraft des Evangeliums unaufhaltsam wäre. Woran liegt es? Vielleicht an der Diskrepanz zwischen dem uns anvertrauten vollkommenen Schatz der Offenbarung und den so offensichtlich unvollkommenen Mitteln der Politik. Vielleicht weil wir in unserer Geschichte schmerzhaft erfahren mussten, dass Politik unter dem Banner der Religion von Gott entfernt, statt ihn näher zu bringen? Vielleicht glauben wir in der Zwischenzeit auch, was mit der Französischen Revolution als Experiment begonnen hat und mittlerweile als Tatsache verkündet wird, dass Glaube und Politik nichts miteinander zu tun haben (dürfen).

Vielleicht liegt das Problem aber noch viel tiefer: in unseren Herzen? Ich muss in diesem Zusammenhang häufig an Kierkegaards Gleichnis über die Kirche in der Parabel vom Clown denken: Als ein Wanderzirkus am Rande einer Stadt in Flammen aufgeht und der Clown die Stadtbewohner warnen will, erntet er mit seinen warnenden Rufen nur Gelächter. Und je verzweifelter der Clown vor dem drohenden Ende warnt, desto mehr wird gelacht. Schließlich legt das Feuer die Stadt in Schutt und Asche. Einen Vorteil scheint der Clown uns gegenüber zu haben: Er hat die sengende Glut gespürt, er hat die Verwüstung gesehen und bei allem Spott wusste er, dass Feuer und Gefahr real sind. Uns hingegen, seien wir mal ehrlich, beschleicht manchmal das Gefühl, dass alle anderen Recht haben könnten.

Vielleicht machen wir uns wirklich zum Gespött, als Anhänger hoffnungslos veralteter Wertvorstellungen, eines antiken und mittelalterlichen Kultes. Die Gefahren, vor denen wir warnen, scheint niemand zu fürchten, und was wir erhoffen, wird nicht ersehnt. Wie sonst lässt sich unser freiwilliger Rückzug in kirchliche Reservate erklären, während Gesellschaftspolitik auf der Grundlage unchristlicher Menschenbilder anderen überlassen wird?

Bevor sich nun manche über den unterstellten Kleinglauben entrüsten, muss ich etwas klarstellen: Was ich hier schreibe, sagt natürlich sehr viel mehr über mich aus als über Sie, werte Leser. Aber vielleicht sind die nun folgenden Grundsätze für Christen in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung trotzdem auch für Sie hilfreich.

  1. Anfang und Mittelpunkt eines christlichen gesellschaftlichen Engagements muss natürlich immer Jesus Christus sein. Das Ziel ist nicht die perfekte Gesellschaft, das Ende aller Ungerechtigkeit, sondern die Erlösung durch Jesus Christus. Somit überschreite ich gleich mit dem ersten Grundsatz den weltlichen Horizont – und wohlmeinende Kulturchristen werden nicht mehr folgen können. Doch die Gottesbeziehung ist nun einmal die Voraussetzung dafür, dass wir nicht einer starren Ideologie anhängen. Was sonst würde uns von einem Sozialisten der alten Schule unterscheiden? Auch er kennt die „Wahrheit“ und sieht sie gut begründet. Wenn seine Politik scheitert, dann bloß an den Umständen. Erinnert nicht das alte Lied der Partei aus der DDR auch an unsere Hymnen? „Sie hat uns alles gegeben. Sonne und Wind und sie geizte nie. Wo sie war, war das Leben. Was wir sind, sind wir durch sie.“ Das Heil liegt nicht in der Politik!
  2. Nachdem das Fundament des christlichen Engagements geklärt ist, bleiben wir von nun an streng im Diesseits: Wir müssen uns mit Geschichte auseinandersetzen. Wie beschämend und niederschmetternd sind die Vorwürfe vor allem gegenüber der katholischen Kirche. Unsere Geschichte ist eine Aneinanderreihung von Verbrechen, so die Anklage. Kreuzzüge, Hexenverbrennung, Judenverfolgung, Wissenschaftsfeindlichkeit, Frauenfeindlichkeit usw. Wann immer Unrecht geschah, waren auch Katholiken beteiligt. Der Angriff auf die Geschichte einer Kirche, durch die Christus in die Geschichte hinein wirkt, ist ein Angriff auf die Substanz unseres Glaubens. Wir können dies nicht schulterzuckend hinnehmen und so tun, als ließe sich unser Glauben loslösen von der historischen und materiellen Manifestation von Christus in der Kirche. Wenn die Kirche trotz aller himmelschreiender Sünden und Fehler ihrer Mitglieder kein Segen für die Welt war und ist, dann ist sie nicht der Leib Christi. Doch nach einer oberflächlichen Auseinandersetzung bleibt von den Vorwürfen nur das übrig, was wir sowieso bekennen: Wir Menschen sind Sünder und machen Fehler.
  3. Das Studium der Geschichte wird uns nicht beschämen, sondern im Gegenteil unser Verständnis schärfen für die großartigen zivilisatorischen Errungenschaften der christlich-jüdischen Kultur und ihrer Werte: Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, , Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, moderne Wissenschaft, Menschenwürde, Vorrang des Individuums vor dem Kollektiv usw. sind keineswegs zufällig der christlichen Kultur entwachsen. Der Vergleich mit anderen Kulturen und die ersten Früchten einer postchristlichen Postmoderne machen uns sicher. Das europäische Experiment von sich selbsterhaltenden Institutionen und Ideen wird getrennt von ihren christlich-jüdischen Wurzeln scheitern!
  4. Wir müssen verinnerlichen, dass die oben genannten christlichen Werte und Errungenschaften für alle Menschen gut sind, und somit auch für alle attraktiv. Wenig hindert uns, an gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen teilzunehmen, wenn wir wissen, dass diese Werte nicht wahr sind, nur weil sie Christus offenbart hat, sondern weil sie der Ökologie des Menschen entsprechen und allen Menschen ins Herz geschrieben sind. Gott ist der Urgrund allen Seins und genau deshalb brauchen wir uns nicht zu scheuen, naturwissenschaftliche, psychologische, historische und andere auf der Vernunft basierende Argumente zu verwenden.
  5. Wir sollten uns vor allem an den Debatten beteiligen, in denen die Erosion des christlich-jüdischen Wertefundaments am offensichtlichsten ist. Während so viele von uns vergeblich damit ringen, in einer postmodernen Zeit zu erklären, warum der Mensch etwas Besonderes ist und was ihn an Würde und Rechten vom Tier unterscheidet, schwindet eine grundlegende Wahrheit nach der anderen: Mann und Frau – gibt es nicht. Die Ehe – ein überholtes Relikt. Redefreiheit – nur solange sie politisch korrekt ist. Mutterschaft – Versklavung der Frau. Externe Kinderbetreuung – je früher desto besser. Grassierende Kinderlosigkeit – gut für das Klima. Abtreibung – ein Menschenrecht. Euthanasie – gelebte Barmherzigkeit. Freiheit – wird der Gleichheit geopfert. Europäische Werte – Gender und Diversity. Europa braucht uns!
  6. Wir sollten nicht zweifeln und schon gar nicht verzweifeln, wenn nur eine Minderheit der politischen Akteure im Christentum verwurzelt ist. Es ist keineswegs nötig, dass alle Politiker gläubige Christen werden, um für einen christlichen Geist in der Politik zu sorgen. Historisch gesehen hing das Schicksal von Gesellschaften immer von kreativen Minderheiten ab. Legen wir also die Bequemlichkeit einer Volkskirche ab, und beginnen wir aktiv, Christen in der Politik zu unterstützen. Schenken wir christlichen Politikern einen Erfolg an der Wahlurne.
  7. Seien wir keine Einzelkämpfer. Schließen wir uns mit Gleichgesinnten zusammen, für gemeinsame Projekte und Strategien, aber auch zum Gebet. Glauben wir an den Wert von Institutionen, bewahren wir den Schatz der Überzeugungen. Ihre Kontinuität und Legitimität ist die Voraussetzung für den Fortbestand unserer Demokratie.Wir leben in einer Demokratie, und vieles liegt in unserer Macht!

Der Autor ist Präsident der österreichischen „Plattform Christdemokratie“.